Das ist mein Ruhetag. Brauche ihn dringend. Hab eben meine Kleider mit Mango-Shampoo gewaschen. Das Wasser färbte
sich schwarz. Der Dreck von Manila klebt fasern tief.
Die Reise auf dem «Inselparadies» beginnt in der EMM – Extrem-Metropole-Manila. Habe ein günstiges Zimmer, 7 Franken die Nacht, in der Nähe vom Flughafen gebucht. Für die drei Kilometer brauchte
das Taxi satte 65 Minuten! Freddy lacht sich in der Box ins Fäustchen. Zum Glück hat mir in Zen-Ga in Taipeh seinen Schraubschlüssel geschenkt: «hier, pack den ein, nicht dass Du in Manila noch
einen Mechaniker suchen musst». Ich umarme in von weitem. Ab sofort schraube ich die Pedale selber fest!
Wie soll ich hier rauskurven? Wie nur? Laufe die ersten paar hundert Meter bis zur ersten Kreuzung. Das wird wild! Da gibt’s nur eines: Augen auf und durch. Liege im Bett, das Zimmer so gross wie
das Bett. Die Matratze dünn. Der Laken schimmert im vergilbten weiss mit Flecken. Ein Käfer gesellt sich zu meinem Knie. Studiere die Karte rauf und runter. Wahnsinn, die Philippinen sind riesig.
Wo will ich überhaupt hin? Starre mit leerem Blick auf die rot eingezeichneten Strassen. "Wo willst du hin? Wonach suchst Du? Warum bist Du unterwegs? Warum sind meine Freunde plötzlich so weit
weg? Sollte ich mich um diese Jahreszeit nicht auf einer Wanderung zum Oeschinensee wiederfinden?" Gedanken kreisen. Atme tief ein, rieche in Gedanken die Bergluft – sie riecht nach Schimmel. Schimmel überall. Thesi, wach auf! Du bist in Manila! Du bist auf dem
Weg nach Nepal. Spielt keine Rolle auf welcher Strasse Du entlangfährst, fahre einfach und beobachte die Welt mit Neugier und lerne dazu!
Der Morgen ist schwül heiss bei 40° Grad und 94% Luftfeuchtigkeit. Kein Meter gefahren und der Schweiss tropft mir über Wange, Nase, Arme und Beine. Hopp auf’s Rad, der Wind wird kühlen. Tauche ein ins wilde Manila. Abgas von Jeepneys, die übrigens die Amerikaner zurückgelassen haben, umhüllt mich. Halbnackte Kinder strecken mir die offene Hand entgegen. Eine Ratte huscht haarscharf vor meinem Pneu vorbei. Das Hupen der grossen Laster dröhnt bis auf mein Mark. Es riecht in einer Sekunde nach gebratenen Zwiebeln in der anderen nach einem toten Tier, in der nächsten nach Kokosnüssen. Die Mechaniker winken mir von weitem. «Hey Girl, where are you going?». Der Polizist salutiert. Ein Motorrad von links, ein motorisiertes Tricycle von rechts und von vorn ein Ananastransporter der mich mit Warnlichtern wohl warnt. Uff. 50 Kilometer später brauche ich eine Cola. «Madame, Pepsi, CR oder Coca Cola? Cola klein (350ml) only 35 Rupien, Cola gross (1L) only 40 Rupien!». Nehme die grosse Flasche und spüle sie innert Minuten runter. Der Dreck im Hals grad mit. Jede Stadt ist anders zu fahren. Manila ist aber ganz anders. WILD.
Bin nun auf der Strasse 1 unterwegs. Die Menschen winken und rufen mir zu: «Nice Bike! Are you married? Single? How much is
your Bike? Are you ok? Take care!” Kinder rennen mir hinterher. Gebe gefühlte 100 “gimme five» pro Tag. Ein weisser Hyundai hält an. «Are you OK? Wohin gehst Du?». «Das weiss ich auch
nicht so genau, Südwärts!». «In 15 Kilometer kommst Du nach Lucban. Wir möchten Dich zu einer Geburtstagsparty einladen. Sozusagen als Überraschungsgast. Mein Bruder Michael wartet in einer
Stunde bei der Iglesia Ni Cristo auf Dich. OK?». Mein Verstand entscheidet innert Sekunden, dass die Einladung ernst gemeint ist und die Leute vertrauenswürdig. Bei der Kirche ist nicht nur der
Bruder, sondern ein ganzes Empfangskomitee. Tony hat bereits ein Seil an seinem Motorrad installiert um mich den Berg hoch zu ziehen. Was für ein Spass.
Es wird reich aufgetischt. Farnsalat und gebratene Schweinehaut um nur zwei der vielen Gerichte zu nennen. Dem Geburtstagskind stehle ich ein bisschen die Show. Entschuldige mich bei ihm. Er
meint: «Ach was! Morgen habe ich was zu erzählen im Dorf, eine Schweizerin auf meiner Party, glaubt mir keiner. Schnell ein Beweisfoto!». Tony packt seine Drummer-Sticks aus und trommelt auf die
Kokosnuss ein. «Hey, ich habe ein Schweizer Taschenmesser». Wie ein Zauberer zückt er aus seiner linken Hosentasche eine Klinge. «Tataaaa!». (Unter uns…eine geklebte Klinge von einem Japanmesser,
aber psst, es ist Tonys Schweizer Messer!)
«Morgen komme ich mit Dir und wir fahren um die Welt! Wir durqueren Amerika, fahren durch die Sahara und Campen in Australien, ok?» Ach Tony…
Langsam verabschiede ich mich. Der Triathlet Will begleitet mich noch 5 Kilometer und sagt: «Pass auf Dich auf, das ist der Wilde Westen hier!».
Was habe ich von Drummer-Tony gelernt? Die Welt, die Ferne kann in Gedanken ganz nahe sein.
600 Kilometer bin ich nun Südwärts gefahren – und es gab keine 100 Meter wo nichts war. Überall Menschen. Die Strasse ist gesäumt von Bambus-, Wellblech- und
einfachsten Holzhütten. Ich fahre sozusagen durch die Stuben von armen Menschen. Es schockiert mich. Eine Fünfköpfige Familie lebt auf einem Raum, nicht grösser als eine Bushaltestelle bei uns.
Kleider werden auf Bäumen, Leitplanken und dem Trottoir getrocknet. Kinder in zerrissenen Kleider spielen lachend im Dreck während ihre Mütter auf dem kleinen Feuer Suppe mit Blätter kochen.
Männer hacken mit grossen Messern im Dickicht die frischen Bananen ab. Schulkinder schleppen Wasserbehälter vom Pumpbrunnen nach Hause. Armut habe ich das erste Mal vor 10 Jahren in den Slums von
Kathmandu gesehen. Später auch in Indien. Aber es schockiert mich immer wieder von neuem. Mache praktisch keine Fotos. Kann meine Kamera einfach nicht hervornehmen. Traue mich nicht einmal einen
Kaugummi in den Mund zu nehmen. Weil ich mir Kaugummi leisten kann.
Mir geht nur ein Wort durch den Kopf: Scheisse! Ich weiss, der Ausdruck ist nicht angebracht. Muss es erläutern: Ich fahre vollbepackt auf einem teuren Rad durch diese Gegend. Blicke den Menschen
direkt in die Augen. Fahre weiter. Kann mir essen kaufen. Weiterfliegen ins nächste Land. Meine Freiheit leben. Reisen. Tun was ich will. Sauberes Trinkwasser kaufen. Zuhause habe ich die Chance
auf eine bezahlte Arbeit. Kann Hobbies ausleben. Mir ein Busticket kaufen. Eis aus dem Gefrierfach nehmen, wenn mir danach ist. Wir haben Einhebel -Mischer-Wasserhahn, da kommt sauberes Wasser
raus und ich kann sogar einstellen ob kalt oder warm oder lauwarm. Das ist doch völlig übertrieben! Scheisse, mir geht es zu gut. Und was kann ich hier tun? Nichts! Doch!
Ich kann diesen Menschen mit allergrösstem Respekt begegnen. Jedem einzelnen. Vom jüngsten Mädchen mit zerzausten Haaren über den kräftigen Mann der ganz zart jede einzelne Litschi auf dem
Holzbrett zum Verkauf anpreist bis zur alten, gebrechlichen Frau die mir mit ihren zwei verbleibenden Zähnen zulacht. Grüsse ich sie oder winke ihnen zu – beginnen sie zu strahlen. Das ist das
einzige was ich tun kann, ihnen meinen tiefsten Respekt zum Ausdruck bringen. Sie haben vielleicht kein Diplom in der Schublade oder kein Sparkonto… ABER um solch einen Alltag, solch ein Leben
meistern zu können, dafür braucht es wohl viel, viel mehr!
Dankbare Grüsse
Euer Thesi
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Monika (Montag, 08 Oktober 2018 17:36)
Hello Tessi
Ja, "mir si verwöhnt". Es ist ein Privileg in der Schweiz wohnen zu können. Das wird mir bewusst, wenn ich Deine Zeilen lese... und brutal diese Kluft zwischen arm und reich.
Hebs no guet on philipin eiland u bis gli Monika
Hermann (Dienstag, 09 Oktober 2018 09:56)
Du hast des Rätsels Lösung gefunden: Respekt. Wenn nur die Politiker, die Wirtschaftsleute und viele, viele andren so klug und so ethisch fundiert wie du wären. Einmal mehr Respekt, Maria-Theresia!
Daniel (Freitag, 12 Oktober 2018 11:56)
Farnsalat!
Seelenreise (Freitag, 02 November 2018 19:37)
Oh, Maria-Theresia, so gut geschrieben, soooo treffend erzählt …
Alles Liebi,
Heidi